DER BRAUNGURT: 2. und 1. KYU
Die praktische, kreative Stufe
Die Braungurtstufe ist eine sehr wichtige; das Training dafür sollte innerhalb des Rahmens eines ernsten, verantwortlichen und reifen Geistes geschehen. Bis hierhin sollte man stark und wohl vertraut in der Ausführung sämtlicher Techniken sein und trotzdem immer noch danach streben, noch höhere Stufen des Könnens zu erlangen. Im Kampf sollte die Fähigkeit, einen rangniedrigeren Gegner durch Timing, Distanzgefühl und Sensibilität zu kontrollieren, schon gut entwickelt sein.
Um sich auf das Schwarzgurtniveau vorzubereiten, übernimmt der Braungurt langsam viele Verantwortungen im Dojo. Der Braungurt lehrt eine Klasse mit Autorität, schöpft dabei sowohl aus seiner persönlichen Erfahrung als auch von der Dojo-Tradition und vom dort Gelernten. Er ist fähig, die verschiedenen physischen und psychischen Konzepte, wie auch das geistige Potential des Karate, klar und präzise weiterzugeben. Man wird auf dieser Stufe anders angesehen; sogar der vorher mittelmäßigste Schüler wird nach Erreichen dieser Stufe eine andere Ausstrahlung haben.
Kreativität kann sich ab jetzt am stärksten entfalten, so dass der Braungurt leicht eigene technische Variationen entwickelt, die auf den psychisch-physischen Grundlagen des Karate aufbauen. Das Kreieren eigener Kata sowie das Experimentieren mit den Bewegungen der Standardkata bilden zwei wichtige neue Seiten des Trainings, die einem auf seiner persönlichen Suche unterstützen. Im Laufe dieser Experimente wird der Braungurt ein oder zwei traditionelle Kata finden, die er mit spezieller Aufmerksamkeit studiert und sie sich „aneignet“. Man wird vielleicht mehrere Jahre damit verbringen, diese Kata zu verfeinern, bis man feststellt, wieviel man von derartigem Training profitieren kann.
Die geistige Einstellung des Braungurtes sollte wachsen wie auf keiner anderen Stufe zuvor. Die jüngeren Schüler sollten fühlen, dass sie dem Braungurt vertrauen können; er sollte das Vertrauen mit Ehrlichkeit, Integrität und Loyalität respektieren. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Braungurt gute Kontrolle über jene negativen mentalen Züge gewonnen, die dazu neigen, sich in die Persönlichkeit einzuschleichen, wenn man nicht aufpasst: Wut, Selbstmitleid, Eifersucht (negative Züge der Rotgurtstufe); Stolz, Entmutigung, Gleichgültigkeit (negative Züge der Blaugurtstufe); Übertreibung, Rachsüchtigkeit, Hinterlistigkeit (negative Züge der Gelbgurtstufe); Geiz, Betrug, Verrat, Vorurteile (negative Züge der Grüngurtstufe). Man muss immer wieder einen Schritt zurücktreten und sich selber betrachten, einfach um sicherzugehen, dass man seiner Persönlichkeit und Gedanken sowie der Vorurteile seines Geistes Herr ist und nicht umgekehrt.
Der Braungurt gibt sich in allen Lebenslagen praktisch veranlagt; er besitzt eine kultivierte Auffassungsgabe. Er hat den letzten der Schülergrade erreicht, nun ist es Zeit für die Vorbereitung auf das Reich des Yudansha, des Schwarzgurtes, wodurch das Bewusstsein sich dauerhaft verändert. Somit muss sich der Braungurt mit mutigem Herzen und eisernem Willen zusammennehmen und Vertrauen haben in die Schönheit des vor ihm liegenden Unbekannten.
Der Braungurt stärkt das Vertrauen und die Entschlossenheit in seinen Weg, indem er die Wege anderer studiert, deren Stärken und Schwächen feststellt und daraufhin seine eigene Einstellung entsprechend anpasst. So festigt man die Stärke des eigenen Weges. Ohne Vergleichsmöglichkeit können die eigenen Studien dazu neigen, ein verzerrtes Bild zu ergeben. Man kann dabei den Bezug zur Realität verlieren, ohne sich dessen bewusst zu werden. Dies kann unabhängig davon geschehen, wie ernsthaft jemand trainiert oder wie überzeugt man zu sein glaubt. Dies zeigt uns die Wichtigkeit auf, in einer der Tradition verbundenen Schule zu trainieren. Man ist sich eines festen Weges und qualifizierter Lehrer sicher.
Objektive Vergleiche mit anderen Schulen, Dojos sowie anderen Schülern deiner Schule sind wichtig. Aber vergiss nicht den Grund für den Vergleich. Lerne deine eigenen Stärken kennen, indem du die Schwächen anderer wahrnimmst. Eine der praktischsten Arten, objektive Vergleiche zu ziehen, um seine eigene Technik zu verbessern, ist die Teilnahme an Turnieren. Dort siehst du, ob das Training wirklich effektiv war.
Der Braungurt hält seinen Geist offen für alle Möglichkeiten. Er lernt, jedermanns Stärke und die Integrität und Ehre jeder rechten Sache zu respektieren. Durch die Öffnung des Geistes muss er sich bemühen, zwischen richtig und falsch weise zu unterscheiden. Der Braungurt kennt die Unzulänglichkeiten seiner eigenen Waffen und respektiert die Möglichkeiten seiner Gegner – sowohl die körperlichen wie auch die geistigen.
Der Braungurt realisiert, dass er mit seinen Worten, Einstellungen und Handlungen das Dojo, den gewählten Weg und den Lehrer vertritt. Deshalb respektiert er die Verantwortung, die er trägt und zollt all seinen Worten, Gedanken oder Taten nötige Betrachtung. Während der Braungurt zum Schwarzgurt heranwächst, lässt sich mehr denn je die Wichtigkeit und Stärke der Bindung zwischen Schüler und Lehrer erkennen. Die Integrität des Kyokushin Karate wird nur durch die Qualität der Leute zusammengehalten, die es als Yudansha (Schwarzgurt) akzeptiert.
Das japanische Schwert bietet eine ausgezeichnete Analogie: Es ist nicht bloss eine gefährliche, zum effizienten und effektiven Töten gemachte Waffe, es ist auch ein wunderbares Kunstwerk. So sollte es auch mit dem Karateka sein. Man hat die Wahl, sich durch die Kunst entweder in ein schönes Kunstwerk, oder in eine gefühllose und völlig destruktive Waffe zu entwickeln.
Man wird entweder zu einer zivilisierten und rücksichtsvollen Person – oder zum Terrorist. Die Kunst lehrt uns, zu leben oder zu sterben; leben zu geben, oder zu nehmen. Das Herz sollte der künstlerischen Schönheit des Schwertes gleichen. Leben ist ein ständiger Kampf – leb es rein und mit der Schärfe einer Bizen-Klinge, überlegen und mit dem unfehlbaren Geist seines Schnittes.
Braun ist eine interessante Mischung aus den drei vorhergehenden Farben – zwei Fünftel rot (körperlich), zwei Fünftel gelb (intellektuell), und ein Fünftel blau (geistig). Der Braungurt sollte nun näher an das Gleichgewicht von Körper, Geist und Seele herankommen. Es ist aber ein grosser Schritt, und währenddem er zwischen dem vierten und fünften Zentrum der Entwicklung hin und her schwankt, ist es ebenso möglich, rückwärts statt vorwärts zu gelangen.
Nur allzu oft wird der Karateka als Braungurt selbstgefällig, zufrieden an der Spitze der Schülergurte. Diese Person ist noch nicht bereit, die Herausforderung des Yudansha zu akzeptieren, vielleicht weil sie spürt, dass die Änderungen in ihrer Einstellung bedeuteten, dass sie nie wieder die selbe wie früher sein würde. Es gibt viele Ausreden, aber echte, gültige Gründe sind sehr selten.
Das Folgen des Kriegsweges gleicht dem Erklettern einer Klippe: Gehe voran, ohne Pause. Pausieren ist nicht möglich, weil es Rückschritte zu früheren Stadien des Erreichten bewirkt. Beharrlichkeit, Tag ein, Tag aus, verbessert die Techniken, aber Pausieren – sei es nur für einen Tag – bewirkt Rückschritte. Dies muss man vermeiden.
Wer zu diesem Zeitpunkt im Training stockt, hat immer noch den „Schülergeist“ abzuschütteln, die Reife zu akzeptieren, die man für die Verwandlung in Yudansha benötigt. Es ist sicher kein kleiner Schritt. Ein gewisses Herzklopfen begleitet die Entscheidung des Schülers, nun weiterzufahren. Der Braungurt fühlt sich gut in den Schülerrängen – der älteste von allen Schülern, von allen respektiert. Noch weiss er nicht, welch grosse Gaben noch vor ihm liegen. Er ist wie ein Vogel, der an der offenen Tür seines vertrauten Käfigs zögert, bevor er gewillt ist, den ungewissen Schritt in die dahinter liegende Freiheit zu wagen.
Die Entscheidung ist persönlich. Die Vorwärtsbewegung wird gleichmässig kommen, wenn Energie in die richtige Richtung geleitet wird. Trägheit wird einem zurückziehen, sobald sich Selbstzufriedenheit einstellt. Sei auf der Hut!